Die Verkehrssicherungspflicht – erläutert anhand der „Stagediving“ Entscheidung des OLG Hamm

Tagtäglich kommt es vor, dass Menschen außerhalb ihrer eigenen Wohnungen und Häuser zu Schaden kommen. Stürze in Baustellen, Verletzungen bei Sportveranstaltungen, Unfälle mit von personenbedienten Maschinen gehören ebenso zum Alltag wie Unfälle im Straßenverkehr. Und immer wieder stellt sich dieselbe Frage „Wer kommt für diese Schäden auf?“

Bei der Beantwortung der vorstehenden Frage spielen zwei Begrifflichkeiten eine entscheidende Rolle. Zum einen die sogenannte Verkehrssicherungspflicht, zum anderen das Mitverschulden.

Die Bedeutung der Verkehrssicherungspflicht:

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes wird die Verkehrssicherungspflicht und deren Umfang wie folgt definiert:

Derjenige, der eine Gefahrenlage, etwa durch Verkehrseröffnung geschafft, ist grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um Schäden von Dritten möglichst fernzuhalten (vgl. BGH VersR 2003,1319; 2006,233).

Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend erfolgreich begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch (vgl. BGH VersR 77,812). Eine Verkehrssicherung, die jede nur denkbare Schädigung eines anderen verhindert, ist im praktischen Leben schlichtweg nicht erreichbar (vgl. BGH VersR 65,746).  

Haftungsbegründend wird eine Gefahr erst dann, wenn die nahe liegende Möglichkeit besteht, dass andere aufgrund dieser Gefahr zu Schaden kommen können (vgl. BGH VersR 2002, 247; 2003, 1319). Deshalb muss auch nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden.“

Letzten Endes hängt die Frage, ob eine Verkehrssicherungspflicht schuldhaft verletzt wurde, immer von den Umständen des Einzelfalles ab. Grundsätzlich reicht es zur Beachtung der Verkehrssicherungspflicht aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der Gruppe, welche die Gefahr geschaffen hat, für ausreichend halten darf, um andere vor Schäden zu bewahren.

Das (anspruchsmindernde) Mitverschulden

Im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) findet sich in § 254 Abs.1 folgende Regelung

„Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt, so hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist“.

Der Vorwurf des Mitverschuldens beruht also nicht auf der Verletzung anderen gegenüber bestehender Rechtspflichten, sondern auf einem Verstoß gegen das Gebot der Wahrnehmung eigener Interessen. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass jeder einzelnen dazu verpflichtet, alles Mögliche zu tun, um sich selbst vor Schaden zu bewahren.

Ein solches Mitverschulden kann beispielsweise dann angenommen werden, wenn der Fahrer eines Pkw das in der Straßenverkehrsordnung normierte Sichtfahrgebot nicht beachtet und einen Unfall verursacht. Ein Mitverschulden ist beispielsweise auch dann zu bejahen, wenn der Geschädigte, der auf einem nicht gestreuten Gehweg ausrutscht, keine den Witterungsbedingungen entsprechende Schuhe trägt.

Das Mitverschulden des Geschädigten kann so groß sein, dass die Verkehrssicherungspflichtverletzung dahinter vollständig zurücktritt, mit anderen Worten der Geschädigte auf seinem Schaden sitzen bleibt.

Das „Stagediving“ Urteil des OLG Hamm

Der 13. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm hatte im Jahr 2001 über die Berufung des beklagten Konzertveranstalters gegen ein Urteil des LG Bochum aus demselben Jahr zu entscheiden.

Der Sachverhalt:

Die Klägerin besuchte am 15.4.2000 ein Rockkonzert in Bochum. Die Beklagte war die Veranstalterin dieses Konzertes. Der Kläger stand während des Konzertes in der 3. Reihe unmittelbar vor der Bühne. Es gab keine Bühnenabsperrungen. Im Laufe dieses Konzertes sprangen zwei Personen auf die Bühne, hielten sich dort kurz auf und sprangen anschließend von der Bühne in den Zuschauerraum. Hierdurch erlitt die Klägerin eine Kniegelenksluxation und war für die Dauer von über einem Monat arbeitsunfähig erkrankt. Die Klägerin nahm die Beklagte auf Schadensersatz in Anspruch, da die Beklagte nach ihrer Ansicht als Konzertveranstalter das Stage-Diving hätten verhindern und andere Konzertbesuche vor Schäden bewahren müssen.

Die Entscheidung:

Das Landgericht hatte die Beklagte zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 6000 € verurteilt und festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die künftigen Schäden anlässlich ihrer erlittenen Verletzungen zu ersetzen. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die allerdings nur zum Teil erfolgreich war. Das Gericht ist bei seiner Entscheidung von einem Mitverschulden der Klägerin i.H.v. 1/3 ausgegangen. Ihrer

Nach der Auffassung des OLG Hamm handelt es sich beim „Stagediving“ um ein bei Rockkonzerten durchaus häufig auftretendes Phänomen. Nach Ansicht des Gerichtes war die Beklagte, der dieses Problem bekannt war, verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um ein solches Stage Diving zu unterbinden. Welche Maßnahmen dabei zutreffend sind, hängt nach Ansicht des Gerichtes vom jeweiligen Einzelfall ab. So kann es unter Umständen erforderlich sein, den Bühnenbereich durch  Absperrgitter oder Barrieren, die in einem gewissen Abstand vor der Bühne aufgestellt sind, zu sichern. Gegebenenfalls ist es sogar erforderlich, weitere Ordner im Bereich dieser Absperrungen zu postieren. Es kann jedoch auch, abhängig von der konkreten Situation während des einzelnen Konzertes, ausreichen, Ordnungskräfte im Bereich der Bühne vorzuhalten, die einschreiten, wenn Besucher auf die Bühne gelangen.

Da die Beklagte keine dieser Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt hatte, hat das Gericht eine schuldhafte Verkehrssicherungspflichtverletzung bejaht.

Dass die Klägerin die ihr entstandenen Schäden nicht zu 100 % ersetzt bekommen hat, liegt daran, dass das Gericht von einem Mitverschulden der Klägerin ausgegangen ist. Die Klägerin hat sich nah an der Bühne aufgehalten. Dies ist ein durchaus gefährlicher Bereich. Nach Ansicht des Gerichtes ist die Stimmung nah an der Bühne am ausgelassenen und steigert sich im Laufe des Konzertes noch. Dies kann der Klägerin nicht und verborgen geblieben sein, sodass Gericht. Zusammenfassend hat das Gericht das Mitverschulden der Klägerin wie folgt begründet:

„Wer die Steigerung und das Aufheizen der Stimmung im Laufe des Konzertes mitbekommt und sich gleichwohl bis zum Höhepunkt des Konzertes in vorderster Front aufhält, der setzt sich selbst der Gefahr mit aus und muss sich dies bei Schadenseintritt entgegenhalten lassen.“